Ja klar! Aber es ist nicht ganz einfach. Nähern wir uns der Frage aus systemtheoretischer Perspektive. Warum? Weil erstens der Name cool ist, zweitens Niklas Luhmann, der Verfasser der Theorie, ganz schön Durchblick hatte, und drittens systemtheoretische Vorstellungen oft (auch unbewusst) benutzt werden, um zu behaupten:
Deutschland hat ein inklusives Schulsystem, die Förderschulen sind Teil des inklusiven Schulsystems.
– Zum Beispiel behauptete das der Sonderpädagoge Otto Speck in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung
Eine andere häufig gehörte Behauptung ist:
Die UN-Behindertenrechtskonvention bevorteilt Menschen mit Behinderungen!
Beides ist falsch.
Denn: Diejenigen, die so argumentieren, machen einen entscheidenden Fehler:
Sie tun so, als wären wir noch im 18. Jahrhundert.
Damals war die Gesellschaft noch anders organisiert als heute. Das entscheidende Ordnungskriterium war, ob du oben oder unten, Adel oder Bauer bist. Je nachdem durftest du wählen, Eigentum erwerben, höhere oder niedere Schulen besuchen. Eine solche gesellschaftliche Ordnung nannte Luhmann stratifizierte Gesellschaft. Über Inklusion und Exklusion in die Teilsysteme, so auch das Bildungssystem, entschied die gesellschaftliche Position, nicht die Leistung[1].
Damals wäre eine Konvention, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen fordert, unsinnig gewesen. Warum sollten Behinderte in die Schule und das Kind von einem Bauern nicht? Was ist der Unterschied dieser Frage zu einer heutigen Frage: Warum soll ein behindertes Kind auf ein Gymnasium und eines mit Hautschulempfehlung nicht?
Der Unterschied ist: Im18. Jahrhundert wurden das behinderte Kind und das Bauernkind mit der gleichen Begründung aussortiert: Armut.
Heute wird das behinderte Kind eben deshalb aussortiert, weil es behindert ist.
Die UN-Behindertenrechtskonvention macht erst jetzt Sinn.
Aus systemtheoretischer Perspektive leben wir in Deutschland heute in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Das bedeutet, dass sich unsere Gesellschaft ganz wesentlich über die Funktion der einzelnen Teilsysteme ausgestaltet: Das Wirtschaftssystem ist ein System, das Religionssystem ein anderes. Das Rechtssystem kennen wir und auch das Wissenschaftssystem und eben das Bildungssystem[2]. Jedes dieser so genannten Funktionssysteme hat Grenzen.
Das heißt: Man kann Teil eines Systems sein oder auch nicht.
Genaugenommen ist systemtheoretisch nicht eine Person, sondern ihre Kommunikation inkludiert oder exkludiert: Das, was ich mitteile und das, was verstanden wird, ist das System. Jedes System hat dabei eigene Regeln, was als ernsthafte Kommunikation und damit auch als inkludiert in das System verstanden wird: Mein Versuch, Kaffee bei Starbucks mit Muscheln zu bezahlen, wird nicht als ernsthafte Wirtschaftskommunikation aufgefasst werden, ich muss schon mittels Geld kommunizieren. Wenn ich für meinen Kaffee nur 3 Euro und nicht 1850 Euro (oder wie viel kostet ein Kaffee bei Starbucks mittlerweile?) habe, dann reicht das zwar nicht, ich kann nicht zahlen – aber der Versuch wird ernst genommen werden. Wenn ich hingegen versuche, im Rechtssystem mit Geld zu kommunizieren, dann ist das Korruption und der Versuch wird (hoffentlich!) unterbunden. Hier soll die Logik „zahlen oder nicht zahlen“ keine Rolle spielen – stattdessen ist die Unterscheidung zwischen Recht oder Unrecht die entscheidende.
Was hat das mit Inklusion zu tun? Naja:
Inklusion und Exklusion wird nun von jedem Funktionssystem einzeln geregelt.
Es kann also keine zentrale Instanz geben, die sagt: Das Bildungssystem soll nun inklusiv sein – und dann macht das System das. Stattdessen muss die Frage, wer inkludiert wird und wer nicht, auf allen Ebenen des Funktionssystems immer wieder neu verhandelt werden.
Bei Bildung generell darf heutzutage (fast) jeder mitmachen. Wir können also sagen: Auf der Ebene der Funktionssysteme ist das deutsche Bildungssystem inklusiv. Es soll aber laut UN-Behindertenrechtskonvention inklusiv „auf allen Ebenen“ sein. Das heißt, auch die Teilhabe an den Teilsystemen soll für behinderte Kinder möglich sein. Oder, systemtheoretisch ausgedrückt: Die Unterscheidung zwischen behindert oder nicht behindert darf bei der Teilhabe an Kommunikation im System keine Rolle spielen. Die Teilsysteme im Bildungssystem sind zum Beispiel Gymnasien, Grundschulen, Realschulen, Klassen, einzelne Schulen und, ja, auch Förderschulen.
Um im System Förderschule mitmachen zu können, muss man aber behindert sein.
Denn für die Teilhabe an der Kommunikation im System ist die Art des Förderschwerpunkts entscheidend. Nicht die Schulleistung. Kinder mit einem Förderschwerpunkt Hören gehen auf eine Förderschule Hören; Kinder mit einem Förderschwerpunkt Lernen gehen auf eine Förderschule Lernen. Hat man mehrere Förderschwerpunkte, kann es je nach Bundesland kompliziert werden, wie Sandra Roth in ihrem tollen Buch „Lotta Schultüte“ beschreibt. Ohne Behinderung aber, ist in der Regel die Schulleistung das entscheidende Kriterium.
Und so könnten Förderschulen inklusiv sein
Wenn Kinder ohne Behinderung genauso wahrscheinlich Teil der Förderschule werden, wie Kinder mit Behinderungen, wenn also die Unterscheidung behindert oder nicht behindert für den Zugang zu den Teilsystemen des Bildungssystems irrelevant wäre, dann könnten Förderschulen aus systemtheoretischer Perspektive inklusiv genannt werden.
So lange Förderschulen aber exklusiv für Kinder mit Förderschwerpunkt da sind, sind sie nicht inklusiv. Das kann man einfach mal einsehen und dann können wir überlegen, ob wir diese nicht-inklusiven Schulen als Teil unseres inklusiven Bildungssystems akzeptieren wollen und können. In Konsequenz der UN-Behindertenrechtskonvention muss unsere Antwort ganz klar „nein“ sein. Aus Konsequenz der Systemtheorie[3] sollten wir außerdem aufhören, Förderschulen inklusiv zu nennen. Das verwirrt nur.
[1] Von der Idee her ist das jetzt anders: Nicht die gesellschaftliche Stellung sondern die Schulleistung soll über den Zugang von Kindern zu bestimmten Schulen entscheiden. Das nennt man das meritokratische Prinzip. Dass sich bis heute eine starke Verwobenheit zwischen Herkunft und Bildungserfolg zeigt, lässt sich nicht zuletzt auch auf genau diese Tradition der stratifizierten Gesellschaftsform zurückführen.
[2] Bei Niklas Luhmann heißt das Bildungssystem Erziehungssystem. Für unsere Zwecke passt der Begriff Bildungssystem aber besser.
[3] Eine rechtliche Betrachtung nimmt zum Beispiel Michael Wrase vor; er verdeutlicht: „Grundsätzlich separierende Organisationsformen der sonderpädagogischen Förderung wie Sonder- bzw. Förder- oder Kooperationsklassen erfüllen die Vorgaben des Art. 24 Abs. 1, 2 BRK demgegenüber im Regelfall nicht“ (Wrase, 2015). Das Zitat stammt aus dem Kapitel „Die Implementation des Rechts auf inklusive Schulbildung nach der UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Evaluation aus rechtlicher Perspektive“ in dem Buch“ Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen“, herausgegeben von Poldi Kuhl u.a., erschienen im VS Verlag für Sozialwissenschaften und leider nicht open Access.
7 Gedanken zu “Können Förderschulen inklusiv sein? Eine systemtheoretische Antwort”