„Warum macht ihr das? Also, warum ausgerechnet dieses Förderprogramm für Hannah?“
„Weil es evidenzbasiert ist.“
Oha. Verdächtig, verdächtig…
Zumindest mir drängt sich der Verdacht auf, dass das Argument, dass etwas evidenzbasiert sei, gegen Kritik immunisieren soll. Man könnte nämlich weiterfragen: „Aber ist das Förderprogramm auch gut für Hannah?“ Die Antwort käme prompt: „Na klar, es ist ja wirksam.“ „Hmm…“ Aber wirkt es wirklich nur so, wie es wirken soll?
Manchmal scheint es mir, als wollten diejenigen, die am vehementesten behaupten, dass etwas evidenzbasiert sei, etwas anderes verstecken: Dass das, was so toll wirkt, vielleicht gewisse Nebenwirkungen hat.
Aber das ist nur meine nicht-evidenzbasierte basierte Ansicht zu Evidenzbasierung.
Die Wirkung des Wortes „evidenzbasiert“ hingegen erscheint mir durchaus evident.
Für welches Medikament gegen Langeweile würden sie mehr Geld ausgeben? Für das evidenzbasierte Medikament Flandufin [1] oder für das nicht-evidenzbasierte Medikament Moldipatin1?
Klar, Sie wissen, dass Sie hier in eine Falle gelockt werden, deshalb ist die Frage unsinnig. Aber grundsätzlich würden Sie sich wahrscheinlich für Flandufin entscheiden. Das würde ich übrigens auch tun: Wenn ich krank bin und zum Arzt gehe, dann erwarte ich, dass mir der Arzt ein Medikament verschreibt, das wirkt. Und diese Wirkung soll vom Arzt nicht nur auf Basis seiner Intuition oder eines Gefühls angenommen werden (meinungsbasiert), sondern auf Basis von gut gemachten Studien (eben evidenzbasiert sein). Außerdem sollte der Arzt eine plausible Erklärung dafür haben, weshalb das Medikament wirkt, also die Wirkung theoriebasiert annehmen können [2].
Sie nehmen also Flandufin, dessen Wirkung evidenzbasiert ist. Um es etwas weniger dramatisch – und passender für die Erziehungswissenschaft – zu machen, nehmen wir an, dass Flandufin nicht gegen eine bestimmte Krankheit wirkt, sondern gegen Langeweile. Ihnen ist sehr langweilig – und Sie sind auch langweilig. Wenn die Studien zur Evidenzbasierung von Flandufin gut gemacht wurden, dann können Sie ziemlich sicher sein, dass Ihre Langeweile verschwindet, wenn Sie Flandufin nehmen. Flanduifin wirkt, indem es Sie permanent Witze denken lässt [3]. Es ist herrlich! Sie lachen, Ihre Umwelt lacht, Sie sind bestens integriert, alle mögen Sie.
Schade nur, dass Sie wegen Flandufin keine eigenen Witze entwickeln können. Denn mit der Langeweile geht die Kreativität. Sie haben keine neuen Gedanken mehr, sondern Sie denken nur noch Witze, die es schon gibt.
Würden Sie das in Kauf nehmen? Wiegt die gewünschte Wirkung – keine Langeweile mehr, beliebt sein – die Nebenwirkungen – keine Kreativität mehr – auf?
Auch in der Medizin stellt sich diese Frage. Es ist dabei am Patient – nicht am Arzt – zu entscheiden, ob die Wirkung des Medikaments die Nebenwirkungen wert ist. In jedem Beipackzettel sind die Nebenwirkungen abgedruckt und es ist sogar angegeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Auftreten werden.
Für pädagogische Programme gibt es keinen Beipackzettel.
Es gibt ihn nicht, weil er nicht gewollt ist. Mögliche Nebenwirkungen werden nicht mit reflektiert: In einem Sprachförderprogramm beispielsweise geht es darum, die Sprachkompetenz von Kindern zu verbessern. Ob sich die Sprachkompetenz auf Basis dieses Förderprogramms verbessert, wird dann in Studien zur Evidenzbasierung des Programms erforscht. Ob die Kinder mitbekommen, dass Sie an einem Sprachförderprogramm teilnehmen und sich deshalb vielleicht für doof halten, ob Ihre Mitschüler, die nicht gefördert werden, dass denken und die Kinder auf dem Nach-Hause-Weg dissen, ob durch die Vermehrte Konzentration auf die Sprachkompetenz die Mathematische Kompetenz sinkt oder das Kind keine Zeit mehr zum Spielen hat, das alles wird nicht mit erforscht. Von vorneherein nicht.
Und selbst wenn wir wollten, selbst wenn in Studien zu Evidenzbasierung mögliche Nebenwirkungen – der eigentliche Begriff wäre hier nicht-intendierte Nebenfolgen – mit berücksichtigt werden würden, gebe es noch einen weiteren Strang, nämlich die nicht-intendierten Nebenfolgen, an die wir noch gar nicht denken.
Es gibt in der Pädagogik keine Beipackzettel, weil es eigentlich immer so war, dass die Nebenwirkungen durch den Pädagogen reflektiert wurden und zwar an Hand von moralischen Maßstäben. Deshalb haben sich auch Dinge geändert: Obwohl es funktioniert, Kinder zu schlagen, um z. B. Verhalten zu unterbinden, tun wir das nicht mehr. Die Nebenwirkungen, die sich dabei herausgestellt haben (Gewalt erzeugt Gewalt), waren dabei nicht der Knackpunkt der Argumentation – sondern das Schlagen an sich entsprach nicht mehr den gängigen Moralvorstellungen der Gesellschaft.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Argumentation für andere – teils heftig umstrittene Methoden –entwickeln werden.
Welche Methoden nehmen wir für welche Ziele in Kauf?
Pädagogen, Eltern, aber auch die Gesellschaft stehen bei dieser Frage in besonderer Verantwortung: Sie entscheiden diese Frage stellvertretend für das Kind. Das Kind aber wird die Nebenfolgen am deutlichsten und am stärksten und vielleicht sogar als einziges spüren. Wir sollten deshalb ganz besonders auf die Kinder – und gerade auch auf die erwachsenen Kinder – hören, wenn wir entscheiden, welches (evidenzbasierte) Programm gut für ein Kind sein kann.
Dass das Förderprogramm für Hannah evidenzbasiert ist, sollte deshalb der Anfang sein um zu überlegen, ob es für Hannah gut ist. Und nicht das Ende.
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[1] Als ich dieses Wort am 28.2.2017 googelte, gab es keine Treffer. Insofern bin ich recht sicher, dass ich hier kein Medikament o.ä. diskreditiere.
[2] Zum Beispiel stört mich an Homöopathie nicht nur die mangelende Evidenzbasierung sondern auch das Fehlen einer guten Theorie, die erklärt, warum das wirken sollte. Ich persönlich finde nämlich die Grundannahme, dass Feuer am besten mit Feuer bekämpft werden sollte (in der Homöopathie heißt das „Simile-Prinzip“), nicht überzeugend.
[3] Ich wollte hier ein paar Beispielwitze anführen, aber mir fallen keine ein. Wer welche kennt, möge diese bitte in das Kommentarfeld schreiben, danke!
Hat dies auf Gedankenkarrussel rebloggt und kommentierte:
Der Artikel ist v.a. im Hinblick auf die viel gerühmte „Evidenzbasierung“ bei ABA sehr lesenswert.
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The voice of railonaitty! Good to hear from you.
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Über Evidenz habe ich auch schon viel nachgedacht. Das Problem ist, dass Evidenz nicht heisst, dass Medikament X bei ALLEN Patienten gegen YZ hilft. Vielmehr hat es vielleicht bei 50% geholfen, während das Placebo bei 30% geholfen hat. Ich bin kein Statistik-Profi, ich weiss nicht genau, wie gross der Unterschied sein muss. Im Zweifel lohnt es sich deshalb, sich die relevanten Studien selbst anzugucken.
So oder so, der Einzelfall lässt sich mit Evidenz m.E. nie vollständig erklären. So viele Faktoren spielen rein bei einem Menschen. Und verschiedene Faktoren spielen eine Rolle, dass am Ende eine Therapie das Label „evidenzbasiert“ hat.
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Ein Chemiker, ein Ingenieur und ein Mathematiker diskutieren darüber, ob es besser ist, eine Frau oder eine Freundin zu haben (es sind natürlich auch andere Konstellationen der Geschlechter denkbar). Der Chemiker sagt: „Auf keinen Fall heiraten! Wenn man nicht verheiratet ist, dann bemüht man sich immer wieder um den anderen, die Liebe bleibt frisch, und beide sind glücklich.“ Der Ingenieur entgegnet: „Natürlich muß man heiraten! Dann ist alles klar geregelt. Und selbst, wenn die Beziehung wieder aufgelöst werden muß, dann steht gesetzlich klar fest, wie das abzulaufen hat.“ Schließlich sagt der Mathematiker: „Ihr habe beide Unrecht. Man sollte eine Frau und eine Freundin haben. Der Frau sagt man dann, man ginge zur Freundin. Und der Freundin sagt man, man ginge zur Frau. Nur so hat man ausreichend Zeit, sich in Ruhe der Mathematik zu widmen!“
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This ingihst’s just the way to kick life into this debate.
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