Logischerweise habe ich den Film nicht gesehen. Ich werde mit Sicherheit auch kein Geld ausgeben, um es zu tun. Wieso auch? Ich weiß schließlich, wie Wissenschaft richtig geht. Hä was?
Neutrale Infobox: Vaxxed (geimpft) – Von der Vertuschung zur Katastrophe
Der amerikanische Film „Vaxxed – from cover up to catastrophe“ soll zurzeit (Frühjahr 2017) in verschiedenen deutschen Kinos gezeigt werden. Einige Kinos haben sich nach der Auseinandersetzung mit der Kritik an dem Film dazu entschieden, den Film nicht zu zeigen. Andere Kinos halten an der Ausstrahlung fest und manche Kinos unterbinden die Kritik am Film.
Ja… und?
Nicht ganz so neutrale Infobox: Was interessiert mich daran?
In dem Film geht es um die Verbreitung der Annahme, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln mit Autismus. Der Regisseur des Films ist Andrew Wakefield. Wakefield hat wissentlich Daten gefälscht, um diesen Zusammenhang statistisch zeigen zu können. Obwohl in der wissenschaftlichen Community klar ist, dass seine auf diesen falschen Daten beruhende Studie von 1998 Quatsch ist (die medizinische Fachzeitschrift The Lancet hat die Studie 2010 zurückgezogen), wird in dem Film „Vaxxed“ die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln als Auslöser für Autismus dargestellt. Der Film ist also wissenschaftlich Unsinn. Es werden schlicht Lügen[1] verbreitet.
Wenn Quatsch sich so gut verbreiten lässt, dann interessiert mich, weshalb.
Dass der Inhalt des Films wissenschaftlich Quatsch ist, erschließt sich für mich schon dadurch, dass Autismus eine angeborene Entwicklungsstörung ist, die sehr wahrscheinlich genetische Ursachen hat, und deshalb schon theoretisch nicht durch Impfungen verursacht werden kann. Faktenunabhängig stoßen wir aber, wenn Dinge in zeitlichem Zusammenhang miteinander stehen, auf ein erkenntnistheoretisches spannendes Phänomen:
Wenn Dinge gleichzeitig oder kurz versetzt hintereinander passieren, dann denken wir, dass die zwei Dinge irgendwas miteinander zu tun haben müssen.
Aus dem Trailer zu „Vaxxed“ geht hervor, dass sich der Film diesen Fehlschluss von Menschen zu Nutze macht: Es werden Eltern interviewt, die an ihren Kindern besorgniserregende Veränderungen feststellen – und zwar zeitlich kurz nach der Impfung.
Anstatt, dass begründet werden müsste, dass Impfung und Veränderung (die Autismus sein sollen) in einem inhaltlichen Zusammenhang miteinander stehen, soll plötzlich gerechtfertigt werden, dass sie es nicht tun.
Diese Fehlannahme ist in unserem Denken stark verankert: Wenn der Storch kommt, dann kommen die Kinder (denn im Frühjahr kehren die Storche zurück und es kommen die Kinder auf die Welt, die im Anschluss an die Frühlingsgefühle des Vorjahres gezeugt wurden). Ich habe fest die Daumen gedrückt, deshalb ist es gut gegangen. Umgekehrt fällt es uns genauso schwer, Dinge, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten passieren, inhaltlich zu verknüpfen: Dass Rauchen Krebs auslöst, zum Beispiel. Nicht jetzt. Nicht morgen. Aber wahrscheinlich irgendwann.
Deshalb interessiert es mich gar nicht, ob man statistisch einen Zusammenhang (statistisch: Korrelation) zwischen Autismus und der Impfung an nicht gefälschten Daten feststellen könnte. Denn wissenschaftlich wäre dieser genauso relevant wie der Zusammenhang zwischen dem Verbrauch von Margarine und der Scheidungsrate in Maine[2].
Laut den Machern von „Vaxxed“ gibt es einen zeitlichen Zusammenhang, der gleichbedeutend mit einem inhaltlichen ist. Dass das erst jetzt raus kommt, liegt an einer Verschwörung.
Eine Verschwörung muss ein perfektes Drehbuch haben. Niemand darf einen Fehler machen und keiner darf Quatschen.
Je mehr Menschen an der Verschwörung beteiligt sind, desto schwieriger wird es, die Verschwörung zu kontrollieren.
Im Trailer von „Vaxxed“ ist eine Person zu sehen, die behauptet, dass die US- Zentren für Gesundheitskontrolle und Prävention um den Zusammenhang zwischen der Impfung und Autismus wüssten. Laut Wikipedia sind diese Zentren mit dem Zweck des Schutzes der öffentlichen Gesundheit betraut und in etwa vergleichbar mit dem Robert-Koch-Institut in Deutschland. Sie sind eine Bundesbehörde und unterstehen dem Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten. Die Behörde (15.000 Mitarbeiter) und das Ministerium (67.000 Mitarbeiter) sind also Teil der Verschwörung. Sie verschweigen wissentlich, dass eine Impfung Autismus auslösen würde – Obama höchst persönlich ist auch mit dabei: Die Regierung hat sich nämlich mit der Pharma-Lobby verschworen (wohlgemerkt: Obama, Trump sieht das ja anders). So weit, so unplausibel.
Der Ehrlichkeit halber muss ergänzt werden, dass nicht nur die Obama-Regierung und die Pharma-Lobby zur Verschwörung gehören, sondern auch Kinderärzt*innen, Wissenschaftler*innen[3], die Universitäten, die autistische Selbstvertretung, Einzelpersonen, sowie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Deutschland, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, und die Weltgesundheitsorganisation.
Es stellt sich die Frage: Wenn das so ne krasse Verschwörung mit Whistleblower und geleakten Dokumenten und so ist – wann macht WikiLeaks da wohl was zu? Vermutlich dann, wenn die Welt bereit ist, einzusehen, dass die Erde eine Scheibe ist[4].
Wer schützt unsere Kinder vor dem Absturz von der Scheibe?
Der Trailer zu „Vaxxed“ beginnt tatsächlich mit der Frage, wer unsere Kinder schützt. Er löst Angst aus: über die Bilder von metergroßen Spritzen, zarten Babys, einem Kind, das drei Mal auf den Boden fällt (denn es kann in Folge der Impfung nicht mehr laufen), einem Jungen, der sich gegen den Kopf haut, schnellen Schnitten, dramatischer Musik und weinenden Kindern. Es ist offenkundig, dass die Gefahr in der Spritze – und nicht etwa in der Krankheit, die mit ihr verhindert werden soll – gesehen wird.
Ich habe die Vermutung, dass es in dem Film gar nicht so sehr um die Möglichkeiten geht, wie wir Kinder beschützen können, sondern darum, Angst vor einem möglichen Schutz zu machen: Dem Impfen.
Vielleicht wurde dem Film aber auch einfach ein falsches Genre zugeordnet. Vielleicht soll er ein Horrorfilm sein oder eine Warnung, wie Dokumentationen aussehen, wenn sich niemand mehr bewusst ist, dass alternative Fakten nichts anderes ist als ein Begriff für Lüge.
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[1] Lüge, die: Unwahrheit; das Gegenteil von wahr; Falsches; veraltet für „Fakenews“ und „postfaktisch“.
[2] Mehr solcher Zusammenhänge unter: http://www.tylervigen.com/spurious-correlations
[3] Aus humoristischen Gründen würde ich jetzt gerne schreiben, dass ich 1087 Euro für den Blogbeitrag bekäme – aber Ironie funktioniert im Internet ja nicht sooo gut.
[4] Diese Verschwörungstheorie gibt es wirklich – und sie bezieht sich leider nicht auf Terry Pratchett.
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Hier gibt es ein paar Bilder hat Alternative Fakten zum Film:
https://keineahnungvongarnix.com/2017/04/03/noch-ein-paar-nichtalternative-fakten-zu-vaxxed/
Ein Gedanke zu “Schnelle Schnitte, weinende Kinder, dramatische Musik: Postfaktisches im Kino”