Lehrerinnen und Lehrer können grausam sein

Die Klassenlehrerin Frau B. sagt zu Lukas: „Weißt du was mich richtig ärgert? Dass du so unglaublich faul bist. Diese beiden Frauen da [die Forscherinnen] denken echt, dass du bescheuert bist.

Dabei bist du einfach nur so richtig schön dumm. So richtig schön dumm-faul.“

Diese Szene entstammt einem Forschungsprojekt zu Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern (Projektnetz INTAKT).
Erwachsene sind in pädagogischen Arbeitsfeldern, wie es beispielsweise Kitas und Schulen sind, dafür verantwortlich, dass den Kindern nichts passiert und dass ihre Rechte gewahrt werden. Dazu gehört das Recht auf gewaltfreie Erziehung (§1631 Bürgerliches Gesetzbuch).

Gewaltfrei bedeutet – so steht es auch deutlich im Gesetz, dass das Kind weder körperlich noch seelisch verletzt werden darf.

Wir wissen vermutlich aus eigener Erfahrung (direkt oder weil wir es beobachtet haben), dass dieses Recht in der Schule nicht immer umgesetzt wird [1].

Doch wie verbreitet ist solches Verhalten?

Das Projektnetzwerk INTAKT hat über 15 Jahre mehr als 12.000 Szenen in Schulen beobachtet und dokumentiert.
Die Szenen wurden schließlich danach kategorisiert, ob sie neutral, wertschätzend, uneindeutig oder verletzend dem Kind gegenüber waren. Als wertschätzend galten beispielsweise Lob, Trost und Fairness. Destruktive Kommentare, das Kind ignorieren oder anbrüllen wurden als verletzend eingestuft. Uneindeutig kann zum Beispiel Ironie oder Sarkasmus sein.

Das Ergebnis war:

Jede vierte Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen war problematisch. Seelische Verletzungen sind die Gewaltform, von der Kinder am häufigsten betroffen sind.

Genauer: 5% der beobachteten Szenen waren sehr verletzend, weitere 26% waren leicht verletzend, 4 % waren uneindeutig. In 59 Fällen konnte körperliche Gewalt beobachtet werden. Sexuelle Übergriffe wurden nicht beobachtet.

Interessant ist außerdem:

  • An jeder Schule ist es möglich, anerkennend mit den Kindern umzugehen, das beweist der überwiegende Teil der Lehrerinnen und Lehrer täglich.
  • Es gibt nur geringe Unterschiede zwischen den beobachteten Fächdern (Deutsch, Mathe, Musik, Sport).
  • Sehr anerkennende und sehr verletzende Lehrkräfte arbeiten häufig Tür an Tür.
  • Manchmal treffen serielle Verletzungen immer wieder das gleiche Kind.
  • An Schulen, die ein inklusives Profil haben oder die explizit Anerkennung im Leitbild betonen, sind die Durchschnittswerte etwas besser.

Die Pädagogen, die beobachtet wurden, wussten, dass sie beobachtet werden. Wir wissen nicht, was hinter geschlossenen Klassenzimmertüren tatsächlich passiert.

Schockierend. Und nun?

Auf Initiative der Professorin Annedore Prengel haben sich in den folgenden Jahren Menschen aus Wissenschaft, Praxis, Verwaltung und Politik zusammengetan und in dem Ort Reckahn in Brandenburg nachgedacht.
Ziel war und ist es, verletzende Verhaltensweisen zu minimieren und wertschätzendes Verhalten zu stärken.
Dazu haben wir lange darüber diskutiert, was richtig und falsch ist. Was geht und was nicht. Und auf welchen Handlungsebenen sich richtiges Verhalten stärken und falsches vermeiden lässt. Entstanden sind dadurch die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen. Sie sollen Leitlinien sein und zum Nachdenken anregen. Zurzeit werden Fortbildungskonzepte für Pädagogen entwickelt und Wege zur Verbreitung gesucht und gegangen. Ausführliche Materialien können hier heruntergeladen werden.

Die folgenden 10 Leitlinien [2] bestehend aus sechs Geboten und vier Verboten wurden in der Annahme erarbeitet, dass sie konsensfähig sind:

Was ethisch begründet ist:

  1. Kinder und Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behandelt.
  2. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu.
  3. Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte und förderliche Unterstützung besprochen.
  4. Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits gelingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten Weiterentwicklung werden vereinbart.
    Die dauerhafte Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.
  5. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.
  6. Kinder und Jugendliche werden zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen angeleitet.

Was ethisch unzulässig ist:

  1. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche diskriminierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder unhöflich behandeln.
  2. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kindern und Jugendlichen entwertend und entmutigend kommentieren.
  3. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder ausgrenzend reagieren.
  4. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte verbale, tätliche oder mediale Verletzungen zwischen Kindern und Jugendlichen ignorieren.

Das sollte doch machbar sein, oder? Fehlen euch noch weitere Leitlinien? Darf es zum Beispiel Strafen geben?

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[1] Gern könnt ihr in den Kommentaren eigene negative und positive Erfahrungen schildern! Vielleicht erinnert ihr auch Situationen, die ihr nicht richtig einordnen könnt.

[2] Herausgegeben werden die Leitlinien von folgenden Insitutionen:

Deutsches Institut für Menschenrechte
Deutsches Jugendinstitut
MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam
Rochow-Museum und Akademie


2 Gedanken zu “Lehrerinnen und Lehrer können grausam sein

  1. Mir schwirren gerad tausend Gedanken im Kopf. Zu meiner eigenen Schulzeit, zur Beschulungssituation meines Ältesten, einzelne Sätze und einzelne Lehrkräfte bei meinen drei Jüngeren.

    Jetzt gerade möchte ich mich einfach nur für diesen Artikel bedanken!

    Und für die Leitlinien, die Du so zugänglich gemacht hast.

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  2. Sehr gute Auflistung und erschreckend.
    mir ist bei Hospitationen oft aufgefallen, dass es Schulen gibt, an denen grundsätzlich kein wertschätzender Umgang mit den SuS gibt. Das ist schlimm und grausam.
    An anderen Schulen ist das genau umgekehrt. Das macht sich aber auch im Umgang der Kollegen untereinander bemerkbar.
    Dabei merkt man aber auch, dass die Einschätzungen teils sehr subjektiv sind. Der exakt gleiche Wortlaut, gleiche Handlungen können bei unterschiedlichen Lehrkräften ganz anders gewertet werden. Ist eine Lehrperson an den SuS interessiert und zugewandt, kann auch ein negativer Kommentar in einem ganz anderen Kontext betrachtet werden als bei jemandem, der/die immer sehr destruktive Kommunikation zeigt.
    Wichtig ist mMn auch, wie in den Schulen gearbeitet wird. Persönliche Beziehungen sind mMn sehr entscheidend. Wenn ich einstündig ein Nebenfach unterrichte kann ich keine Beziehung aufbauen. Dann machen sich teils destruktive Strukturen eher bemerkbar.
    Kenne ich die Kinder und Jugendlichen kann ich z.B. Verletzungen zwischen den SuS oft besser erkennen und besser agieren. Kenne ich die SuS nicht bemerke ich so etwas evtl. Gar nicht. Oder ich treffe versehentlich durch falsche Oder ungünstige Wortwahl einen wunden Punkt.
    Es gibt also mMn auch im System wirklich noch große Verbesserungsmöglichkeiten, wobei natürlich jeder im Umgang mit anderen Menschen aufgefordert sein muss sich ethisch gut zu verhalten. Aber ich merke oft selbst, wie schwierig das teils ist, auch wenn ich sehr bemüht bin und mich immer wieder dahingehend reflektiere.

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