Lernen Kinder an Förderschulen mehr?

„Kinder mit Förderbedarf Lernen machen die gleichen Fortschritte, egal ob sie an der Förderschule oder an einer inklusiven Schule lernen“, sagt der Spiegel. Die Aussage legt nahe, dass es eigentlich egal ist, wo die Kinder lernen. Die Förderschule sei nicht besser als inklusive Schulen und die inklusiven Schulen haben keinen Vorteil gegenüber den Förderschulen. Aber stimmt das?

Die Studie, auf die sich der Spiegel stützt, ist eine Teilstudie im Rahmen der groß angelegten Bielefelder Längsschnittstudie zum Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements (kurz: BiLieF). Längsschnitt bedeutet, dass die Kinder nicht nur einmal, sondern mehrmals getestet worden sind. Das ist die Voraussetzung dafür, um überhaupt von „Fortschritten“ sprechen zu können.

Der Spiegel schreibt: „Beim Ausbau der Kompetenzen waren Schüler an Inklusions- und Förderschulen […] fast gleich auf.“

Obwohl das irgendwie gut klingt, rate ich dennoch zum Besuch einer inklusiven Schule.

Denn ich habe mir die Studie mal etwas genauer angeguckt. Und dabei öfters mal „Achso, Aha“ gedacht.

Untersucht wurden 441 Kinder mit einem Förderbedarf Lernen mittels etablierter Testverfahren im Leseverständnis und im Rechtschreiben. Etwas weniger als die Hälfte (42%) besuchte inklusive Schulen. Getestet wurden die Kinder im Schuljahr 2012/2013 zum ersten Mal – da waren sie bereits in der dritten Klasse. Erneut wurden sie zu Beginn der vierten und zum Ende der vierten Klasse mit den gleichen Tests getestet.

Aha-1: „Fortschritt“ bezieht sich nicht etwa auf die ganze Schulzeit, sondern auf zwei Schuljahre.

Die Autorinnen und Autoren der Studie haben also untersucht, welche Fortschritte Kinder vom Beginn der dritten Klasse bis zum Ende der vierten Klasse gemacht haben und wodurch (Geschlecht, Intelligenz, finanzielle Lage der Familie) diese Fortschritte beeinflusst werden. Dazu haben die Autorinnen und Autoren der Studie auf die Berechnung so genannter latenter Wachstumskurvenmodelle zurückgegriffen. Klingt fancy – ist es auch. Bevor wir uns aber von fancy statistischen Verfahren ablenken lassen, werfen wir zunächst einen Blick auf die faktische Ausgangslage und Entwicklung:

Punkt im Lesetest an der Förder- und inklusiven Schule von Klasse drei bis vier.
Datenquelle: Stranghöner et al. (2017); eigene Darstellung

Das Diagramm zeigt die Punkte, die Kinder mit Förderbedarf Lernen an inklusiven Schulen (blau) und in Förderschulen (rot) erreicht haben. Wir sehen zwar, dass an beiden Settings eine Entwicklung stattfindet, wir sehen aber auch:

Aha-2: Im Lesen sind Kinder an Förderschulen am Ende der Klasse in etwa auf dem Niveau, das Kinder in inklusiven Schulen bereits Anfang der dritten Klasse erreicht hatten.

Was wir aus dem Kurvenverlauf vielleicht nicht unmittelbar entnehmen können, was uns aber das fancy Wachstumskurvenmodell verrät, ist außerdem: Die Kinder an den inklusiven Schulen lernen mehr dazu. Mit anderen Worten: Die Schere im Leseverständnis geht weiter auf.

Werfen wir einen Blick auf die Rechtschreibung, von der der Spiegel behauptet, die Kompetenzentwicklung an Förderschulen sei hier sogar besser:

Punkte im Rechtschreibtest von der dritten Klasse bis zur vierten Klasse in inklusiven Schulen und in Förderschulen
Datenquelle: Stranhöner et al. (2017); eigene Darstellung

Hier können wir am Verlauf der Linien erkennen, dass die rote Linie etwas steiler ist als die blaue – das heißt zwar, dass Kinder an Förderschulen im Verlauf der zwei Schuljahre mehr dazu lernen, wir sehen aber auch:

Aha-3: Im Rechtschreiben erreichen Kinder an Förderschulen am Ende der vierten Klasse nicht einmal das Niveau von Drittklässlern an inklusiven Schulen.

Was verrät uns denn jetzt das fancy-Wachstumskurvenmodell noch so?

  • Die Gruppe der Kinder an den Förderschulen ist nicht homogener (weniger unterschiedlich): Im Lesen weisen beide Gruppen vergleichbare Unterschiede auf, im Rechtschreiben bestehen zwischen Kindern in Exklusion sogar größere Unterschiede als zwischen Kindern in Inklusion.
  • Die Kinder an inklusiven Schulen wiesen günstigere Intelligenzwerte auf, Jungen waren an Förderschulen überrepräsentiert, die finanzielle Lage der Familie unterschied sich nicht zwischen beiden Settings.
  • Für die Leistungsentwicklung (den Kurvenverlauf) spielte die Intelligenz weder in inklusiven Schulen noch an Förderschulen eine Rolle.

Darüber, wie sich die Kinder seit der ersten Klasse entwickelt haben, ob das „Ausgangs“-Niveau in der dritten Klasse auf klügere Kinder in der Inklusion oder auf eine bessere Förderung in dieser zurückgeht, kann der Artikel keinerlei Aussagen treffen.

Übrigens: Die Autorinnen und Autoren sagen das auch alles ziemlich deutlich.

 


2 Gedanken zu “Lernen Kinder an Förderschulen mehr?

  1. Dass stärker lernschwache Schüler eher auf die Förderschule als auf eine integrative Schule geschicklt werden ist zumindest nicht unplausiebel.
    Ist das der Fall hielft uns die Studie leider gar nicht die Eingabgsfrage „Lernen Kinder an Förderschulen mehr?“ zu beantworten. Dazu müssten Gruppen mit gleicher Ausgangslage verglichen werden.
    Aber bei 410 Teinehmenden Schüler ist dafür die Datenbasis zu klein.

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