In sieben Jahren werde ich den teuersten kommerziell erhältlichen Whiskey bekommen und das kam so:
Bart Rienties, Professor für “Learning Analytics” am Institut für Educational Technology an der Open University (UK), hat auf einer Konferenz einen Vortrag gehalten, ich war zufällig auch da und am Ende des Vortrags ziemlich angepisst. Nicht, weil der Vortrag schlecht war, im Gegenteil: Es war eine ganz hervorragende Darbietung, nur… der Inhalt war das Problem: Bart Rienties hat seinem Vortrag den provozierenden – aber falschen – Titel gegeben: „Die Macht der Analyse des Lernens – wird Bildungsforschung noch gebraucht?“. Besser wäre gewesen: „Die Macht der Analyse des Lernens – brauchen wir noch Bildungstheorien?“
Mit perfektionierter Rhetorik stellte er dar, dass die Analyse des Lernens der heilige Gral der Bildung ist.
Analysiert wird vor allem der Unterricht. Allerdings nicht mit dem Fokus, wie Unterricht der Vielfalt menschlichen Lernens gerecht werden kann, sondern die Passung zwischen Unterrichtsdesign und Studierenden.
Hä was?
Unterrichtsdesign scheint mir ein schniekes Wort für „Kursablauf“ zu sein. Analysiert wird, bei welchen Methoden und Methodenkombinationen (Tests, Unterrichtsgespräch, Gruppenphasen) am wenigsten Studierende abbrechen und bei welchen Kursdesigns am besten gelernt wird (= das beste Ergebnis erzielt wird).
Was ist besser? Wöchentlich kleine Tests oder einmal am Ende eine große Prüfung? Sich wiederholende Strukturen (z. B. Test – Gruppenarbeit – Einzelarbeit) oder mehr Abwechslung?
Studierende sind primär Datenpunkte. Datenpunkte von denen nach drei Wochen klar ist, ob sie am Ende des Semesters auch noch dabei sein werden. Denn man weiß, dass Studierende mit Migrationshintergrund, aus finanziell schlechter gestellten Familien und solche, deren Eltern nicht studiert haben, eher abbrechen als andere. Bart Rienties fürchtet dann auch folgerichtig, dass seine Studierenden ihn eines Tages verklagen könnten. Denn er weiß, wer es schaffen wird und wer nicht und er tut nicht genug, damit es auch die schaffen, die es laut Prognose nicht schaffen. Es stellt sich auch die Frage, warum man nicht nach drei Wochen schon das Zertifikat erteilt, wenn dann eh alles klar ist.
Um dieser Überspitzung zu begegnen, guckt Learning Analytics, was besonders erfolgreiche Studierende tun. Dann kann man vielleicht eines Tages intervenieren:
Die nicht erfolgreichen Studierenden müssen dann nur genau das tun, was die erfolgreichen tun.
Wie lange sind erfolgreiche Studierende auf den virtuellen Plattformen? Welche Inhalte schauen sie sich wie lange an? Learning Analytics denkt: Wenn erfolgreiche Studierende für die Aufgabe 5 Minuten brauchen, dann müssen wir einfach gefährdete Studierende zwingen, auch 5 Minuten mit der Aufgabe zuzubringen. Das ist jetzt vielleicht etwas überspitzt, aber prinzipiell trifft es das Denken von Learning Analytics: Lernen ist beobachtbares, messbares Verhalten. Das, was im Kopf passiert, ist eine Black Box und zum Verständnis des Lernens vielleicht wichtig – zu dessen Optimierung aber nicht. Es gibt den perfekten Unterricht, das perfekte Design, das für alle gleich optimal ist. Um Inhalte, subjektive Interessen, individuelle Begabungen und Neigungen geht es hingegen nicht: Als das Publikum aus drei unterschiedlich designten Kursen einen wählen sollte und eine Person denjenigen mit dem interessantesten Thema wählte, führte das zu großer Erheiterung.
Für Inhalte ist zwischen den Zahlen kein Platz.
Und deshalb verstehe ich auch nicht, warum nicht noch mehr Leute zumindest ein bisschen sauer wurden: Es kann für Lehrer*innen aber keine Rezepte geben. Im Publikum saßen mit Sicherheit Professoren, die für Lehrer*innenbildung zuständig sind. Und hier wurde ihnen erklärt, dass ihre Arbeit überflüssig ist. Lehren ist nicht technokratisch, ich kann nicht maschinell zu einem Problem eine Lösung aus einer Schublade ziehen.
Mit dem heiligen Gral für Bildung verspricht Learning Analytics aber genau das:
- Ich habe Kind1, es ist Autist, hat einen Migrationshintergrund und ein Vorwissen von b4 – ich brauche Design zkl25.
- Für Kind2, es ist hochbegabt in Sprache, hat ADHS, die Eltern sind Richter, aber geschieden, Vorwissen ist b7 – ich brauche Design kpd4.
Wenn man‘s genau nimmt, brauche ich dann auch keine Lehrer*innen mehr. Schon gar nicht welche, die eine universitäre Ausbildung absolviert haben, die auf Reflexion professionellen Handelns ausgelegt ist. Professionelles Handeln ist unnötig. Mit Schablone nach Schema F kann ein Roboter das Lernarrangement für das Kind auswählen.
Das ist alles ein bisschen gruselig, etwas überspitzt, und dystopisch.
Deshalb die gute Nachricht: Das wird nicht klappen.
Denn was Learning Analytics fehlt, ist eine Theorie. Es werden Daten gesammelt, Zusammenhänge errechnet, Prognosen erstellt, aber es wird nichts verstanden: Warum kommt Tina mit dem Stoff nicht zurecht? Dass sie finanzielle Schwierigkeiten hat, ist keine Begründung. Eine Begründung wäre, dass sie zwei Nebenjobs hat und deshalb weniger Zeit – das lässt sich aber weder in den Daten finden, noch mit Unterrichtsdesigns lösen. Aber genau das behauptet Learning Analytics: Lernen hängt von zwei Faktoren ab, dem Lehrenden und dem Design des Unterrichts. Andere Faktoren spielen keine Rolle. Der Lernprozess selbst bleibt eine Black Box.
Deshalb bin ich mir sicher, dass es den heiligen Gral nicht gibt.
Am Ende durfte man Fragen stellen.
Ich habe gefragt, ob noch jemand im Publikum sich provoziert fühlt. Es hat sich eine Person mit mir solidarisiert.
Ich habe Bart Rienties gefragt, um was er wettet, dass er den heiligen Gral finden wird. Er schlug Whiskey vor. Die Details haben wir dann später geklärt. Ich habe den teuersten Whiskey gegoogelt und Bart Rienties hat sieben Jahre als Zeitraum gesetzt, den er braucht, bis alle Studierenden, die sich an der Open University einschreiben, ihr Studium auch erfolgreich abschließen. Nicht 80%, nicht 90%. Sondern 100%.
Ein heiliger Gral kennt keine Ausnahmen.
In Wahrheit bin ich natürlich neidisch. Ich hätte mega gern all diese Daten über meine Studierenden.
Ich bin mir manchmal nicht sicher (habe ja vier Kinder und diverse Reformen von Lehrmethoden er[über]lebt) ob gerade Referendare nicht schon nach solchen Theorien handeln. Zumindest wirken einige Ideen gerade junger Lehrkräfte und Referendare so auf mich.
Und auch einige Schulbuchverlage scheinen sich an solchen Theorien entlang zu hangeln.
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Ja, das ist ist die logische Konsequenz. Gerade Referendare und junge Lehrkräfte haben ja noch wenig praktische Erfahrung und hangeln sich an Theorien entlang.
Meiner Erfahrung nach lässt die Theoriegläubigkeit aber im Laufe der Zeit stark nach.
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Zumindest während der Prüfungsphase müssen Referendare sich streng nach den Richtlinien und Vorgaben ihrer Professoren richten.
In acht Jahren haben meine Töchter mehrere Prüfungssituationen von Referendaren miterlebt. Gerade diese Stunden waren geprägt von den neuesten Ideen, wie man Unterricht gestalten könnte. Selbstverständlicherweise musste in den Stunden vorher mit den SchülerInnen trainiert werden, was in der Prüfung zu sehen sein sollte. Und jedes Jahr war es etwas anderes.
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Das variiert vielleicht zwischen den Ländern, aber bei uns sind keine uni-Professoren bei den Prüfungen im Referendariat dabei. Da sind Leute vom Ministerium.
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