Inklusion? Funktioniert nicht! Oder: eine kleine Schulgeschichte

Sie häufen sich, die Artikel, die erklären, dass Inklusion scheitert, weil es an Schule Blablub in Blidorf oder Blöstadt ein Kind gibt, das komplett ausgerastet ist, gewalttätig ist, ausgegrenzt oder gemobbt wird, das sich nicht so verhält, wie es am einfachsten für alle Beteiligten[1] wäre. Diese Artikel sind öde, denn wir wissen:

Früher war alles besser!

Es gab keine schwierigen Kinder, keine überforderten Lehrerinnen und Lehrer und erst recht keine Kinder, die durch andere Kinder beim Lernen gestört wurden.

Mich hat es damals nicht beim Lernen gestört, dass der Junge das Arbeitsblatt gegessen hat, wenn er es nicht bearbeiten wollte. Auch das Mädchen, das dem anderen Mädchen eine geschallert hat, nachdem ihr der Stuhl unterm Hintern weggezogen wurde, hat mich nicht gestört. Und der Junge, der neben mir sitzen musste, hat zwar ständig am Tisch gerüttelt, aber dadurch habe ich lustige Kritzelbilder gemalt.

Schön war das nicht, aber das lag weniger an den unterschiedlichen Kindern als an den überforderten oder uninteressierten Erwachsenen. Will heißen: Wenn wir uns an unsere eigene Schulzeit zurück erinnern, dann finden wir mit Sicherheit ein Kind, das heute als „Inklusionskind“ bezeichnet werden würde. Früher war eben nicht alles besser chilliger.

Aber jetzt ist alles viel krasser!

Was ist alles? Die Kinder? Die Verschiedenheit der Kinder? Die war immer schon da und mit jeder Modernisierung im Schulsystem wurde sie – immer gegen krasse Widerstände – größer: Erst rund 80 Jahre nach der Forderung des Rechts auf allgemeine Bildung, wurde 1888 die Schulgeldfreiheit eingeführt. Theoretisch hätten so auch arme Kinder eine Schule besuchen können. Durchsetzen konnte sich eine allgemeine Schulpflicht aber erst, als durch technologischen Fortschritt Kinderarbeit überflüssig wurde. Zu dieser Zeit wurde das allgemeine Schulwesen überhaupt erst ausgebaut – und zum Beispiel die Ordnung in Jahrgangsklassen erfunden. Nun war es aber schon damals so, dass die privilegierten Schichten ein eher geringes Interesse an einem gemeinsamen Unterricht ihrer Kinder mit allen anderen Kindern hatten: Die exklusive Stellung des humanistischen Gymnasiums – es berechtigte als einzige Schulform für den Staatsdienst – sollte auf jeden Fall erhalten bleiben. 1900 wurde diese absolute Monopolstellung durch Kaiser Wilhelm II. aufgehoben – eine Trennung nach hohen und niederen Klassen im Schulsystem blieb. Gegen krasse Widerstände inklusive der Prophezeiung des Niedergangs von Bildung wurde im Weimarer Schulkompromiß 1920 die erste Schule für alle eingeführt: Eine verpflichtende Grundschule von der ersten bis zur vierten Klasse.

Alle? Naja, nicht ganz. Behinderte Kinder waren nicht gemeint.

Für Kinder, die als anders galten, war die Ausdifferenzierung eines eigenen Systems in vollem Gange. Während des Nationalsozialismus wurden wichtige Grundpfeiler für das Förderschulwesen, so wie wir es heute kennen, gelegt.

Nach Beendigung des nationalsozialistischen Regimes 1945 wurde das allgemeine Schulwesen umorganisiert: Die Zook-Kommission (United States Education Mission to Germany) der alliierten Besatzungsmächte forcierte eine Demokratisierung des deutschen Bildungssystems. Sie hielt dessen Struktur für mitverantwortlich an der Entstehung des autoritären Führerprinzips: Durch das elitäre Berechtigungswesen fehle es bereits den Kindern an Möglichkeiten, gemeinsame kulturelle und soziale Erfahrungen zu machen. Die SPD und die KPD riefen gemeinsam zur Gestaltung eines demokratischen Schulsystems auf. In Groß-Berlin war gesetzlich 1948 eine Einheitsschule mit Schülerselbstverwaltung und Elternausschüssen eingeführt worden.

Zehn Jahre später, 1955, konnten sich konservative Kräfte durchsetzen:

Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems war wieder hergestellt.

Der exklusive Zugang zu Bildung hat allerdings einen Nachteil, dem sich auch die Privilegierten nicht entziehen können, und der immer wieder durchschlägt – damals und heute bei der Diskussion um Inklusion: Exklusion ist richtig kacke für die Wirtschaft.

Dass bestimmte Gruppen exkludiert sind, wissen wir sicher seit den 60ern[2]. Es überrascht nicht, dass dies einerseits Organisationen wie die OECD auf den Plan ruft, die Humankapital brachliegen sehen. Andererseits werden diejenigen aufgeschreckt, die Ungerechtigkeit wittern, in den 60ern zum Beispiel der deutsche Bildungsrat. Der machte Vorschläge zur Demokratisierung der Schulkultur und zur Didaktik, die mehr auf die Bedürfnisse aller Schulkinder eingehen sollte. Bayern und Baden-Württemberg verlängerten sein Mandat damals nicht.

Die Exklusivität im Bildungssystem ist bis heute erhalten.

Die Bildungsexpansion hat zwar dazu geführt, dass mehr Kinder Schulen besuchen, die Unterschiede zwischen den Schichten sind aber bis heute geblieben. Der Schulreformstreit in Hamburg um 2009 ist ein aktuelles Beispiel für die Kämpfe, die ausgefochten werden: das Gymnasium sollte abgeschafft und die Grundschule auf sechs Jahre erweitert werden. Es war der Teufel los! Die Privilegierten haben den Aufstand geprobt und gezeigt, wie Klassenkampf von oben geht. Das Gymnasium wurde nicht abgeschafft. Die Grundschulzeit sind weiterhin vier Jahre.

Neben diesen großen strukturellen Veränderungskämpfen werden ständig kleinere Kämpfe ausgefochten: Kinder von Gastarbeitern wurden gesetzeswidrig in Sonderklassen unterrichtet und aktuell ist sind viele geflüchtete Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen. In Berlin sollte das Jahrgangsübergreifende Lernen am Schulanfang – das in Brandenburg seit den 90ern erfolgreich praktiziert wird – flächendeckend eingeführt werden. Das hat nicht geklappt. Die Abschaffung von Hauptschulen wurde durchgesetzt.

Krass sind dabei nie die Kinder. Krass ist der Widerstand von Erwachsenen.

Aktuell können wir das an Inklusion beobachten. Hier kommt aber ein neues Phänomen hinzu: Bei der Diskussion um alle anderen Reformen wurden diejenigen Kinder, die ausgeschlossen waren, zumindest durch seriöse Medien weitgehend in Ruhe gelassen. Bei behinderten Kindern ist das anders. Hier werden plötzlich Einzelfälle ins Rampenlicht gestellt, die auf der Bühne des politischen Spiels nichts verloren haben:

Liebe Journalisten und Journalistinnen,

wenn Sie eine Schule suchen, an der es ein Kind gibt, das stört, mit dem Lehrer und Lehrerinnen überfordert sind, dessen Eltern sich eine Förderschule wünschen usw., dann werden Sie dieses Kind finden. Die Frage ist nur: Wofür genau benutzen Sie dieses Kind? Oder anders: Was bitte soll an einem Kind interessant sein? Interessant ist, wie Lehrkräfte bei der Ausübung ihres Berufs unterstützt werden. Interessant ist, wie Eltern bei der Wahrnehmung des Rechts ihres Kindes auf den Besuch einer allgemeinbildenden Schule unterstützt werden. Wenn Sie investigativ über Inklusion berichten wollen, dann sollten Sie nicht auf die fokussieren, die mit der Situation umgehen müssen, sondern auf die, die die Bedingungen für diese Situation schaffen: Die lokale Schulpolitik.

Wenn wir uns die Historie der Entwicklung des Bildungssystems vergegenwärtigen, dann lässt sich ziemlich gezielt vorhersagen, welche Parteien Inklusion und mit ihr die inklusiv unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer und die inklusiv lernenden Kinder wahrscheinlich unterstützen, und welche nicht. Insofern stellt sich bei der Bundestagswahl gar nicht so sehr die Frage, welche Parteien Inklusion befürworten oder ablehnen, interessanter wird sein, welcher Sprache und welcher Argumente sie sich bedienen werden.

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1. Außer dem Kind selbst

2. Also 40 Jahre vor dem PISA-Schock, wir hätten gewarnt sein können. Damals wurde zur Zusammenfassung der benachteiligten Gruppen übrigens die Kunstfigur des „Katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ geschaffen.


4 Gedanken zu “Inklusion? Funktioniert nicht! Oder: eine kleine Schulgeschichte

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