Was soll Schule? Über Widersprüche und die ganz großen Fragen

Kindern und Jugendlichen was beibringen! Sie fit für den Arbeitsmarkt machen oder ihre Persönlichkeit bilden? Das ausgleichen, was zu Hause schief läuft? Chancen geben! Aufs echte Leben vorbereiten. Die Illusion aufrecht erhalten, dass man durch Bildung alles werden kann.

Was hier ein bisschen lapidar daherkommt, hat der Pädagoge Helmut Fend in den 80ern erstmalig systematisiert und in der „Theorie der Schule“ zusammengefasst. 2010 erschien die letzte aktualisierte Auflage.

Als Erziehungswissenschaftlerin kommt man um diese Theorie nicht herum, als Lehramtsstudentin meist schon.

Es sei denn, man sitzt bei mir im Seminar, dann gibt es auch für die vorrangig am Kind interessierten angehenden Lehrkräften ein bisschen Gesellschaftstheorie. Nach der Theorie der Schule hat die Schule vier gesellschaftliche Aufgaben: Qualifikation, Allokation, Legitimation/Integration und Enkulturation.

Die Qualifikationsfunktion meint: Schule soll Kinder qualifizieren und zwar für Tätigkeiten außerhalb der Schule – nicht für die Schule, für das Leben lernen wir und so.

Außerdem soll Schule Kinder und Jugendliche je nach ihrer Qualifikation, gemessen als Schulleistung, auf gesellschaftliche Positionen verteilen – das ist der Kern der Allokationsfunktion. Nicht jeder kann Arzt werden – ob du einen Studienplatz bekommst, entscheidet sich über deine Schulnoten. In der Fassung aus den 80ern heißt Allokation übrigens noch Selektion. Das schickt sich zwar nicht, ist aber ehrlicher.

Enkulturation bedeutet, dass die Kinder in die Kultur der Gesellschaft eingeführt werden, also bestimmte Gebräuche und Verhaltensweisen übernehmen, z. B. pünktlich sein, einander zuhören oder auch akzeptieren, dass Leistung wichtig ist und entscheidend für den späteren Lebensweg.

Damit die Gesellschaft nicht auseinander fällt, wird in der Schule vermittelt, dass das deutsche Grundgesetz super ist und Demokratie auch. Damit wird das bestehende System gerechtfertigt und erhalten (Legitimationsfunktion). Dass die Kinder und Jugendlichen zu loyalen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen mit demokratischen Werten herangezogen werden, sorgt für den Zusammenhalt in der Gesellschaft und dafür, dass die Kinder und Jugendlichen an der Gesellschaft teilhaben können (Integrationsfunktion).

„Aber das widerspricht sich doch total!“, wendet eine meiner Lehramtsstudentinnen ein.

„Inwiefern?“, frage ich. „Naja, wenn ich gleichzeitig für das bestehende System fit machen soll, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und so, und dann sollen aber auch alle zusammenhalten – das geht doch nicht!“ Ich denke: „Yeah, baby, welcome to capitalism!“ und sage: „Nun, mit diesen Antinomien, also Widersprüchen umzugehen, ist genau Ihre Aufgabe. Ich freue mich, dass Sie den Widerspruch erkennen und darüber nachdenken können“.

Schule ist schon eine merkwürdige Veranstaltung.

Und deshalb kommt es auch zu den großen Fragen: Sollen wir in der Schule auf Leistungsdruck verzichten und die Kinder anregen, miteinander statt gegeneinander zu lernen (Integration)? Werden sie dadurch nicht in Watte gepackt und völlig realitatsfern erzogen (Enkulturation)?

Welche Qualifikationen sollen vermittelt werden? Die, die die Wirtschaft verlangt oder sollen Kinder in der Schule allgemein gebildet werden bzw. sich selbst interessengeleitet bilden?

Können Kinder in einem System wie der Schule Demokratie lernen? An einem Ort, wo man fragen muss, ob man auf Klo kann und das dann sogar verboten wird?

Soll Schule weiter die Illusion aufrecht erhalten, dass Kinder nach ihrer Qualifikation auf spätere Positionen verteilt werden, wenn wir wissen, dass das nicht stimmt? Denn andere Mechanismen – Netzwerke, Diskriminierung usw. sorgen dafür, dass Schule eben genau die bestehenden Ungleichheiten reproduziert: oben bleibt oben, unten bleibt unten.

Kann man in, mit und durch Schule die bestehenden Verhältnisse verändern, wenn die Aufgabe von Schule gerade im Erhalt des Bestehenden liegt? Man werfe einen Blick in die Rahmenlehrpläne zum Fach Politische Bildung und komme zu dem Schluss: Eher nein.

Und meine Studentin?

Denkt hoffentlich noch eine Weile über ihre neue Rolle nach und bleibt bei ihrer kritischen Haltung. Im Studien- und Schulalltag lassen sich die Widersprüche aber ganz gut ignorieren, weil sie eben nicht im Unterricht, sondern auf übergeordneter Ebene entstehen.

Umso wichtiger ist aber, dass wir gesellschaftlich diskutieren, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich Leben wollen und welche Rolle dabei die Schule spielt – und welche Rolle wünschenswert wäre. Vor dem Hintergrund der Inklusion stellt sich außerdem die Frage, ob Förderschulen eigentlich die gleichen Aufgaben haben und wenn nein: Welche haben sie?


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