„Was steht denn da auf deinem T-Shirt?“
Wenn ich auf die Frage nach bestem Wissen antworte[1], ist manchen die Überraschung deutlich anzumerken. Von einem T-Shirt mit arabischer Schrift wurde wohl eine andere Botschaft erwartet.
Wir haben alle Vorurteile und kategorisieren Menschen nach Merkmalen, die wir sehen können oder auch nach Merkmalen, die wir nicht sehen können. Der Mann, der mit zwei Kindern auf dem Spielplatz spielt, ist eher der Typ „liebevoller Familienvater“, während der Mann mit Bierflasche und Feinripp-Hemd vermutlich „sozial schwach“, mindestens aber nicht „Upper class“ ist. Die Frau im Rollstuhl ist „behindert“ und das Mädchen mit den dunklen Augen und den braunen Haaren hat wohl einen „Migrationshintergrund“.
Auch in der Forschung arbeiten wir mit solchen Kategorien. Obwohl das diskriminierend sein kann und Menschen verletzt.
Warum hat Rawand einen Migrationshintergrund obwohl sie in Deutschland geboren wurde?
Gute Frage. Schließlich ist sie nicht „migriert“ oder „zugewandert“. Sie muss überhaupt niemals gewandert sein, um in der Bildungsforschung einen solchen Hintergrund zu bekommen. Auch nicht ihre Eltern. Meist reicht es, wenn die Großeltern oder eines davon nicht in Deutschland geboren wurden. Das entsprechende Kind fällt dann in die Kategorie „mit Migrationshintergrund“, „nicht deutscher Herkunft“, auf jeden Fall irgendwie anders als „Deutsch“.
Das Denken in Kategorien macht Unterschiede nicht nur sichtbar, es schafft sie auch.
Ob jemand „sozial schwach“ oder „sozial privilegiert“ ist, hat erstens meist mehr mit den finanziellen Bedingungen zu tun als mit der sozialen Kompetenz. Außerdem sind die Grenzen zwischen sozial schwach, mittel und stark nicht echt, wir legen sie im Elfenbeinturm relativ willkürlich fest.
Ähnlich ist es auch mit der Kategorie „Behinderung“, oder im schulischen Kontext, dem „Förderbedarf“. Wir wissen eigentlich gar nicht so genau, was wir meinen, wenn wir sagen, dass ein Kind einen Förderbedarf hat. Die Richtlinien zur Diagnose sind in vielen Fällen so schwammig, dass das Merkmal überhaupt nicht zuverlässig erfasst werden kann[2].
Wir schaffen künstlich Unterschiede, um dann wieder künstliche Gemeinsamkeiten zu finden.
Wir ignorieren gerne, dass die Kinder „mit Förderbedarf“ sehr unterschiedlich sind. Zum einen haben sie unterschiedliche Förderbedarfe und zum anderen unterscheiden sich natürlich auch Kinder mit demselben Förderbedarf. Auch die Gruppe der Kinder „mit Migrationshintergrund“ wird in der Forschung häufig als eine Gruppe verstanden und der Gruppe „ohne Migrationshintergrund“ gegenübergestellt. Es macht in der Lebensrealität der Kinder aber einen Unterschied, ob die Eltern aus Schweden oder der Türkei oder Kurdistan kamen. Diese Kategorisierungen schaden auf lange Sicht.
Trotzdem müssen wir das in der Forschung machen. Ich mache das auch.
Neulich habe ich z.B. für rund 1000 Kinder ausgerechnet, ob sie einen „Migrationshintergrund“ haben. Sie hatten einen, wenn die Eltern oder mindestens ein Großelternteil nicht in Deutschland geboren wurde. Das eigentlich erstaunliche ist: Es funktioniert. Es gibt Unterschiede zwischen dieser – selbst so unterschiedlichen – Gruppe und den Kindern „ohne Migrationshintergrund“. Noch extremer sind die Unterschiede, wenn man den Bildungsstand nimmt, also Kinder, deren Eltern Abitur haben, Kindern mit Eltern ohne Abitur gegenüberstellt. Das deutsche Bildungssystem begünstigt Kinder „ohne Migrationshintergrund“ und „ohne Förderbedarf“ und Kinder mit Abi-Eltern. Sie haben schon im Kindergarten bessere Chancen und das zieht sich durch in die Grundschule, hat Einfluss auf die Schullaufbahnempfehlung und auf die Schullaufbahn und letztlich auf den Beruf.
In einer demokratischen Gesellschaft, in der „niemand auf Grund seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ oder auf Grund seiner Behinderung benachteiligt werden darf [Grundgesetz, Art. 3(2)] ist das ein Skandal.
Diese strukturelle Diskriminierung könnte man natürlich auflösen.
Würde man solche Kategorien einfach nicht mehr anwenden, würde auch niemand sichtlich benachteiligt. Ein Mensch mit Behinderung kann nicht auf Grund seiner Behinderung benachteiligt werden, wenn es keine Behinderungen gibt. Dann wäre jedoch nichts gelöst, das Problem wäre noch da, würde aber verwischt. So wie jetzt die Kategorien Unterschiede verwischen – aber gleichzeitig auch diskriminierende Strukturen erst sichtbar machen können.
Deshalb werde ich weiter Kindern einen „Migrationshintergrund“ zuschreiben, auch wenn sie in Deutschland geboren sind. Ich hab‘s für die oben erwähnte Rechnung übrigens „Migrationsgeschichte“ genannt. Ich finde, das passt besser. Das zumindest können wir nämlich: Bezeichnungen ändern. Gucken, was besser passen könnte. Mal sehen, was die wissenschaftliche Community dazu sagt. [Das ist ja auch ein bisschen das Besondere an den Sozialwissenschaften. Wir messen nicht nur Realität, wir schaffen Realitäten].
Im Übrigen würde ich privat mit der Aufschrift auf dem T-Shirt mitgehen: Kategorisiere mich nicht!
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[1] Ich kann kein Arabisch, habe aber natürlich gefragt, was auf dem T-Shirt steht, bevor ich es gekauft habe.
[2] Das verstößt gegen die Gütekriterien von Forschung.
Ein Gedanke zu “Steck mich in eine Schublade! Über die Notwendigkeit des Kategorie-Denkens”