Über den IQ als Zulassungskriterium für das Gymnasium oder: Wenn man keine Ahnung hat,…

Die Idee ist witzig. Ein bisschen zynisch und ziemlich polemisch. Gut für einen Autor einer Zeitung. Schlecht für die Wissenschaft. Denn der kurze Kommentar strotzt nur so vor Fehlern und das beginnt schon in der Einleitung. Aber bevor ich nun mit einem Molotowcocktail Kommentar auf den Autor losgehe sachlich reagiere, hier eine kleine Infobox:

In der Süddeutschen Zeitung hat ein Autor, der – zumindest seinem Lebenslauf nach – keine besonderen Kenntnisse in Bildungsforschung, Psychologie oder gar spezifisch in der Diagnostik zu haben scheint, einen Kommentar geschrieben, in dem er fordert, Kinder nach dem IQ auf Gymnasien zu verteilen. Denn „Die meisten Menschen verstehen, dass ein Basketballtrainer überdurchschnittlich große Nachwuchsspieler bevorzugt und schmächtige Zeitgenossen nicht von Goldmedaillen im Gewichtheben träumen sollten. Doch seltsamerweise hört das Verständnis auf, wenn es um die Frage Gymnasium oder nicht geht.“[1]

Also erstens mal: Im Basketball hat man längst erkannt, dass auch kleine Menschen einen hohen Korb treffen können. Aber ich versuche mal, mich mit meiner emotional-sozialen Intelligenz in den Autor hineinzuversetzen *hier bitte meditative Musik oder einen Klangschalensound vorstellen, danke* und ich spüre: Er meint, dass es in anderen Bereichen völlig legitim ist, Menschen nach bestimmten Kriterien auszuwählen, in der Schule aber nicht[2].

Lassen wir dem Autor diese Ungenauigkeit also durchgehen, nehmen ihn ernst und versuchen zu erklären,

was den IQ von der Körpergröße unterscheidet.

Zunächst einmal ist der IQ – anders als die Körpergröße – kein direkt messbares Merkmal. Er ist genauso wie beispielsweise die Einstellung zu Inklusion oder die Motivation ein psychologisches Konstrukt. Was genau das jeweils ist, ist also nicht eindeutig gegeben, sondern es wurde sich von Menschen ausgedacht. Es sind Konzepte von etwas, was uns irgendwie beeinflusst und für das sich Worte ausgedacht worden sind: Im Alltag hast du kein Bock, fachwissenschaftlich mangelt es dir an Motivation. Sowohl bei Intelligenz, als auch bei Motivation gibt es ein Alltagsverständnis, was das ist. Als psychologisches Konstrukt aber ist es wesentlich vielschichtiger. So unterscheidet man zwischen intrinsischer (aus der Person selbst heraus) und extrinsischer (durch Anreize von außen) Motivation. Bei der Intelligenz kann man unterscheiden zwischen sprachlicher, mathematischer, emotionaler Intelligenz, zwischen fluider und kristalliner, zwischen Problemlösungs- und Handlungsintelligenz. Oder auch nicht: Es ist wissenschaftlich umstritten, welches Konzept am ehesten zur Realität passt.

Aber jedes mal, wenn jemand Intelligenz misst, dann hat diese Person für sich eine Entscheidung getroffen, was Intelligenz ist. In seinem oder ihrem Kopf bzw. in dieser Studie. Das ist bei der Körpergröße nicht so. Ein Satz wie: „Deine Vorstellung davon, was die Körpergröße ist, lies sich in deiner Studie zwar zeigen, aber mit meinen Daten kann ich das nicht bestätigen“ wäre absurd.

Insofern ist der viel zitierte Satz, „Intelligenz ist, was ein Intelligenztest misst“ gar nicht so verkehrt.

Was stimmt ist, dass der durchschnittliche IQ bei 100 liegt. Aber wegen Wissenschaft, nicht wegen Biologie.

Denn es ist nicht so, dass „der IQ […] der Normalverteilung [folgt]“, wie der Autor schreibt. Sondern es ist anders herum: Die Wissenschaft normiert den IQ Test so, dass der Mittelwert auf 100 festgelegt ist und geht dabei davon aus, dass Intelligenz eine in der Bevölkerung normalverteilte Größe ist[3].

Der Autor schreibt, die Intelligenz sagt die Leistung am besten voraus, viel besser als Motivation und Fleiß. Zunächst einmal muss man dabei sehr genau hingucken, was in einer Studie eigentlich Intelligenz meint: Aus ökonomischen Gründen wird der IQ meist stark verkürzt gemessen. Zum Beispiel wird nur die sprachliche Komponente getestet oder nur ein Matrizentest gemacht.  Je nachdem, welcher Untertest für welches Fach zur Vorhersage der Leistung benutzt wird, wird die Vorhersage mal besser oder mal schlechter gelingen. Aber selbst wenn ein total umfangreicher Intelligenztest benutzt worden wäre, würde das Argument des Autors nicht zeigen, dass der IQ ein gutes Kriterium wäre, um Kinder zu verteilen. Das Argument des Autors verkehrt sich in sein Gegenteil:

Das Argument zeigt , dass der Autor keine Ahnung von Statistik hat.

Denn in echt ist es doch viel erstaunlicher, dass sowas wie Motivation oder Fleiß über die Intelligenz hinaus noch Aufschluss über das Zustandekommen der Leistung geben kann. Es ist eben nicht allein die Intelligenz, die (statistisch) die Unterschiede zwischen Kindern in ihrer Leistung erklärt[4]. Es sind viele weitere Faktoren, wozu eben auch Motivation und Fleiß, der Unterricht oder das Vorwissen zählen. Und das zeigt, dass Intelligenz eben kein gutes Kriterium ist. Wir wissen in der Bildungsforschung, dass weder die Intelligenz, noch die Leistung darüber entscheiden, ob ein Kind zum Gymnasium geht oder nicht.

Und da reißt dann auch der Geduldsfaden.

Denn der Autor merkts ja selbst: Es gibt Kinder, die Potential haben, aber dennoch nicht auf Gymnasium gehen. Und es wäre ja ach so gerechter, wenn man den IQ als Kriterium nimmt, weil dann auch Kinder, die zwar nicht deutsch aussehen, aber schlau sind, zum Gymnasium könnten (und die dummen Akademikerkinder nicht). Das ist ganz schön zynisch. Denn erstens wissen wir, das Akademikereltern ihr Kind trotz verkacktem IQ-Test ans Gymnasium kriegen würden[5]. Und zweitens wissen wir, dass sich für die anderen Kinder nichts ändern würde: Es ist ein lange bekanntes und gut dokumentiertes Problem, dass Kinder aus Akedemikerfamilien eher ein Gymnasium besuchen als Kinder, deren finanzielle Lage nicht so gut, deren Bildungsstand nicht so hoch oder deren Erstssprache nicht Deutsch ist – bei gleicher Leistung. Was sollte sich mit IQ statt Leistung daran ändern?

Dass wir diese Bildungsungerechtigkeit beobachten, hat vielschichtige Gründe. Einer liegt vermutlich darin, dass es für Akademikereltern völlig klar ist, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, während der Besuch eines Gymnasiums für Eltern, die selbst keines besucht haben, reichlich absurd scheint. Das Gymnasium ist eine Parallelwelt.

Was vielleicht mal eine Maßnahme wäre, wäre ein Zwang zum Besuch eines Gymnasiums, wenn man eine Gymnasialempfehlung hat. Das könnte man mal diskutieren.

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P.S.: Ich nutze „Akademikereltern und -kinder“ als leicht diskriminierend gemeinte Kurzform für: Eltern mit akadmischem Bildungsniveau.

[1] http://www.sueddeutsche.de/bildung/schule-ueber-die-schulwahl-sollte-der-iq-entscheiden-1.3501572

[2] Lieber Christian Weber, falls das nicht Ziel Ihres Vergleichs war, bitte kommentieren! Auch die tiefsinnigste emotional-soziale Einfühlung ist fehleranfällig, und wir kennen uns ja echt nicht so gut.

[3] Das zu erklären würde jetzt sehr statistisch werden. Kann ich aber gern machen, wenn wer fragt 😉

[4] In der Statistik geht es darum, Unterschiede in einem Merkmal (z.B. Leistung) durch Unterschiede in einem anderen Merkmal (z.B. Intelligenz) zu erklären.

[5] Dann schicken sie es entweder zu einer Privatschule, verklagen die Diagnostiker*innen oder trainieren so lange mit dem Kind, bis es halt klappt. Für letzteres würden dann auch Start-Ups wie Pilze aus dem Boden schießen.


6 Gedanken zu “Über den IQ als Zulassungskriterium für das Gymnasium oder: Wenn man keine Ahnung hat,…

  1. Gäbe es denn eine erziehungswissenschaftliche Möglichkeit die Eignung für eine bestimmte Art von Bildungsweg zu messen? (also idealisierte unbegrenzte Ressourcen etc. pp. vorausgesetzt)
    Aus naturwissenschaftlicher Sicht würde ich an sowas denken, wie: Wir machen ein fMRT/EEG und Menschen mit Gehirnstruktur X bekommen Bildung X, während die mit Y Y bekommen

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    1. Eigentlich nein. Ich kann mir kein valides Instrument zur Messung der Eignung vorstellen. Gerade dann nicht, wenn die Ressourcen ideal wären, denn ich gehe von der Annahme aus, dass menschliche Leistungsfähigkeit nicht (nur) angeboren ist, oder durch das Individuum selbst bedingt ist, sondern dass die Umwelt einen großen Einfluss hat.

      In der Erziehungswissenschaft können wir (leider?) nicht mit patentrezepten (wenn a dann b) arbeiten, da wir uns nicht als deterministische sondern als probablisistische Wissenschaft verstehen. Für ein Kind mit der Eigenschaft x ist Methode y wahrscheinlich gut – vielleicht aber auch nicht, und für ein anderes Kind mit der Eigenschaft x ist Methode y gar nicht gut.

      Auch bei der Gehirnstruktur, die ja schon Mal objektiver wäre als der iq, stellt sich ein Problem: sie ändert sich und die Bedeutung der hirnstruktur wäre auch wieder Interpretation. Das ist ja auch okay, aber auf Grund dessen kann man eben keine wasserdichten vorhersagen treffen und eine Aufteilung wäre illegitim – das gilt übrigens auch für unser derzeitiges Kriterium, die Leistung: aus Studien wissen wir, dass es z.b. an hauptschulen Kinder gibt, deren Leistung gymnasialniveau hat, und umgekehrt. Dass uns das als legitim erscheint kommt meines Erachtens nach daher, dass die Selektion im Schulsystem vorgenommen wird und nicht von außen. Dazu schreib ich vielleicht Mal ausführlicher was 😉

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  2. Denn es ist nicht so, dass „der IQ […] der Normalverteilung [folgt]“, wie der Autor schreibt. Sondern es ist anders herum: Die Wissenschaft normiert den IQ Test so, dass der Mittelwert auf 100 festgelegt ist und geht dabei davon aus, dass Intelligenz eine in der Bevölkerung normalverteilte Größe ist[3].
    […]
    [3] Das zu erklären würde jetzt sehr statistisch werden. Kann ich aber gern machen, wenn wer fragt 😉

    Ich frage! 🙂

    Das habe ich so noch nicht gehört. Klar, der Mittelwert wird auf 100 gesetzt und auch die Standardabweichung kann man beliebig wählen. Ich habe auch gehört, dass die Gewichtung der einzelnen Tests so angepasst wurden, dass Männer und Frauen im Schnitt den gleichen IQ haben.

    Die Normalverteilung selbst sollte aber doch aus den Daten entstehen, oder nicht? Sind die Intervallgrößen für die einzelnen Werte nicht einheitlich?

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    1. Juhu, jemand fragt 😁 ich werde dazu sicher noch was ausführliches schreiben! Erst Mal kurz: wenn man eine Verteilung standardisiert, dann ist, damit man das machen darf, die Normalverteilung eine Voraussetzung.
      Vermutlich ist es so, dass man diese Verteilung auch empirisch bestätigen kann.
      Zur Gewichtung müsste ich Mal recherchieren.

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