Kein Knall, kein Peng und keine süßen Tiere: Was ist das Besondere an Erziehungswissenschaft?

Zu sehen ist eine im Wasserschwimmende Robbe. Sehr niedlich.
Niedliche Robbe in der Ostsee

In Warnemünde gibt es eine Robbenforschungsstation, auf der das Verhalten von Robben wissenschaftlich erforscht wird und nun möchte ich bitte auch für mein Fach eine Attraktion, für die Touristen Eintritt bezahlen. Und außerdem möchte ich auch mal auf Partys mit Fachfragen genervt werden. So wie in: „Und, was machst du?“ „Ich studiere Medizin“ „Oh, interessant, sag mal, ich hab da seit kurzem so ein Stechen oberhalb der linken Rippe, du weißt sicher, was das ist?“ oder wie in: „Ah, du bist Anwalt. Wie praktisch. Haha, das hörst du wahrscheinlich ständig, aber ich hab da mal so ne Frage, und zwar: Wenn die Polizei einen anhält…“

Ich hab das nämlich noch nie erlebt: „Was studierst du?“ „Erziehungswissenschaft“ „Oh, cool, sag mal, hast du vielleicht n Tip, wie ich Hannah dazu kriege,  dass sie Gemüse isst? Glaubst du, es ist eine gute Idee, sie immer zu belohnen, wenn sie aufgegessen hat?“ Geschweige denn: „Ah, du erforschst das Schulsystem, interessant. Und wie ist da so die Lage? Was gibt es da so für neue Erkenntnisse?“[1]

Das könnte nun daran liegen, dass auf den meisten Partys eher Zipperlein und juristische Probleme anfallen als Erziehungsfragen. Es könnte aber auch daran liegen, dass viele sich gar nicht im Klaren darüber sind, was Erziehungswissenschaft eigentlich meint.

Wissenschaft ist das, was mir das Recht gibt, mitzureden, obwohl ich keine Kinder habe. Wissenschaft, wenn sie zu professioneller Handlungskompetenz führt, ist das, was Erzieher*innen, Lehrer*innen, Pädagog*innen das Recht gibt, Kinder zu erziehen.

Klar, dass die Inhalte von Wissenschaft entsprechend umkämpft sind.

Umkämpfter, glaube ich, als in den Knall-Puff-Peng-Wissenschaften[2]. Denn neben tiefschürfenden, elfenbeinturminternen Methodenkämpfen  (die ziemlich bissig sein können) und den Streitereien um das passendere Modell (die ebenfalls ziemlich bissig sein können) kommt noch ein weiterer Punkt hinzu:

Der Streit um das Richtige an sich.

Der Streit um die Norm. Der Streit nicht nur um die Frage, ob es so ist oder nicht, sondern auch darum, ob es so, wie es ist, gut ist. Oder nicht.

Ein Beispiel: Wenn ich Biologin bin und erforscht habe, dass Robben keine Farben sehen können, dann ist das mein Ergebnis. Dann ist das so. Ich muss nicht reflektieren, ob das jetzt gut oder schlecht ist für die Robbe oder für die Umwelt oder gar für die menschliche Gesellschaft. Die Frage wäre völlig abstrus. Aber wenn ich Erziehungswissenschaftlerin bin und erforscht habe (wie es die PISA-Studien beispielsweise taten), dass Kinder, deren Eltern keinen oder einen wenig angesehenen Beruf haben, schlechtere Leistungen zeigen als Kinder, deren Eltern einen angesehen Beruf haben, dann ist das zwar mein Ergebnis. Aber ich bin noch lange nicht fertig. Ich muss reflektieren, ob das gut oder schlecht ist für das Kind, für die Gesellschaft. Der Schluss, zu dem ich bei dieser Reflexion kommen werde, wird dabei nicht nur von Gerechtigkeitsvorstellungen abhängen, sondern auch davon, was man für die Ursache der Leistung des Kindes hält.

Man kann zum Beispiel denken, dass die Leistung des Kindes quasi angeboren ist. Die Eltern haben schon keinen besonders angesehenen Beruf und haben dem Kind die geringe Leistungsfähigkeit vererbt (siehätten ja einen angesehen Beruf, wenn sie leistungsfähiger wären. Jeder kann alles schaffen, man muss sich nur anstrengen und so). Das Kind wurde also dumm geboren und insofern ist jede Förderung verschwendete Energie. Die logische Konsequenz daraus ist, dass man ein Schulsystem möglichst aufgliedert: Machen wir am besten drei Schularten und zwar eine für die Leistungsspitze (die Theoretisch Begabten, also diejenigen, deren Eltern einen Beruf mit viel Denken haben. Akademiker zum Beispiel); eine Schulart für die, die eher Anpacken als zu denken (die Praktisch Begabten, deren Eltern als Arbeiter bezeichnet werden); und eine Schulart für die, die irgendwo dazwischen sind (die Theoretisch-Praktisch Begabten). Lasst uns die Schularten Gymnasium, Realschule und Hauptschule nennen[3]. Ich weiß, dass das mit der angeboren und vererbten Leistungsfähigkeit und den drei Begabungsarten lächerlich klingt. Deshalb nennen wir es nativistische Begabungstypologie. Kein Witz: Das ist die Ideologie, die das dreigliedrige Schulsystem begründet.

Man kann aber auch denken, dass die Leistung des Kindes durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird, zum Beispiel durch die Motivation des Kindes, die Qualität des Unterrichts, Erwartungen von Eltern, Lehrkräften und Freunden, durch Vorwissen, Unterstützung und Nachhilfe. Die logische Konsequenz daraus ist, dass man ein Schulsystem schafft, in dem die Bedingungen so sind, dass das Kind motiviert wird, der Unterricht eine hohe Qualität hat, hohe Erwartungen herrschen, die Kinder unterstützt werden und zwar unabhängig von den Möglichkeiten der Eltern. Eine Aufteilung der Kinder nach der nativistischen Begabungstypologie entfällt. Die Idee dahinter ist Chancengerechtigkeit.

Und das ist das Besondere an Erziehungswissenschaft

Wenn man feststellt, dass Kinder mit bestimmten Labels („sozial schwach“, „arm“, „Migrationshintergrund“ „schwierige Verhältnisse“ „bildungsfernes[4] Elternhaus“) nicht so gute Leistungen zeigen wie Kinder ohne diese Labels, dann werden Anhänger*innen der nativistischen Begabungstypologie das nicht als problematisch empfinden. Die Kämpfer*innen für Chancengerechtigkeit aber schon.

Der Vorteil an der Idee der Chancengerechtigkeit ist, dass wir zwar nicht sagen können, ob das jetzt die beste und richtige Idee ist, aber wir können zumindest sagen, dass die Grundannahme stimmt: Motivation, Unterrichtsqualität, Unterstützung und viele weitere Faktoren beeinflussen die Leistungsfähigkeit eines Kindes. Der Beruf der Eltern hingegen nicht. Er ist nur eine Zusammenfassung von verschiedenen Faktoren, die eigentlich ursächlich sind.

Das Spannungsfeld zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Solche Forschung ist nie nur rein objektive Wissenschaft. Es ist eine Wissenschaft, die Realitäten beeinflusst. Und das kann Knall-Puff-Peng-Wissenschaft nicht: Es zum Skandal zu machen, dass die Robbe keine Farben sieht und darüber eine gesellschaftliche Veränderung erreichen.

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[1] Stattdessen eher sowas wie: „Ah, Erziehungswissenschaft. Wirst du Lehrerin?“ oder „Ah, Schulsystem. Die PISA-Studien finde ich ja ganz schlimm“ „Ah, Schule. Ja, da war ich auch mal. War kacke/geil“

[2] Knall-Puff-Peng-Wissenschaften, die: neidvoll für Naturwissenschaften (bei denen die Dinge übrigens auch nicht so eindeutig sind, wie oft geglaubt wird).

[3] Achja, und für diejenigen, von denen wir glauben, dass sie gar nix leisten können, brauchen wir ein extra-Sondersystem.

[4] Was für ein gruseliges Wort, das auch mal einen eigenen Artikel wert wäre.


5 Gedanken zu “Kein Knall, kein Peng und keine süßen Tiere: Was ist das Besondere an Erziehungswissenschaft?

  1. Interessanter Artikel, ich freue mich auf weitere. 🙂

    Dazu gleich ein Punkt, der mich immer wieder beschäftigt, wenn es um Sozialwissenschaften geht. Oben sagst du, dass man nicht nur das Ergebnis anerkennen kann, sondern es auch reflektieren muss.

    Dazu erstmal die provokante Frage: Warum? Warum kann man nicht einfach das wissenschaftliche Ergebnis als solches hinnehmen und alles andere der Politik überlassen?

    Und als zweite Frage:
    Wenn man zu dem Schluss gekommen ist, dass man dort weiter forschen möchte, dann wären die nächsten Schritte die Hypothesenbildung (wie du es im Artikel erläutert hast) und direkt im Anschluss die Validierung der Hypothese durch quantitative Studien und Experimente (insbesondere mit dem Ziel die Aussage zu widerlegen).

    Ich habe den Eindruck, dass die Validierung der Hypothesen häufig hinten runter fällt (da das zugegebenermaßen ziemlich schwer in dem Gebiet ist). Ist dieser Eindruck falsch?

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    1. Danke für deine Fragen! Daraus kann man gut zwei neue Artikel machen, denn du hast natürlich Recht: ob Erziehungswissenschaft nicht doch einfach neutrale Wissenschaft ist oder sein sollte, wird diskutiert (ich finde, dass man der Politik keine neutralen Ergebnisse geben sollte, weil die Politik diese dann politisch interpretiert. Man sollte der Politik pädagogisch interpretierte und eingeordnete Ergebnisse zur Entscheidungsfindung zur Verfügung stelle)
      Zu zwei: ja, da gibt es tatsächlich zwei Richtungen und die einen können mit Statistik wenig anfangen und die anderen testen ganz viele Hypothesen, manchmal reden sie miteinander und manchmal schreien sie sich an 😉. Auch dazu bald mehr 😀

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      1. Spontan habe ich die Tendenz, dir bei dem ersten Punkt zuzustimmen. Die Frage besteht dann natürlich darin, ob die Wissenschaftler die Einordnung tatsächlich auf wissenschaftlicher Basis vornehmen (können) oder ob die Einordnungen dann trotzdem politischer Natur sind.
        Wenn man Politik unter dem Deckmantel der Wissenschaft betreibt führt das nur dazu, dass die Wissenschaft als fehlbarer und als „auch nur eine Meinung“ (siehe USA) wahrgenommen wird.
        Jedenfalls bin ich gespannt auf weitere Artikel zu dem Thema. 🙂

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