Förderschule fördert!

Förderschule fördert? Vielleicht. Die Frage ist nur, was. Eigentlich ist die Förderschule ja für die Kinder und Jugendlichen da, von denen angenommen wird, dass sie im Regelschulsystem nicht ohne weiteres mitmachen können. So weit so gut. Dies könnte zu der Annahme verleiten, dass Förderschulen dafür da sind, diese Kinder eben auf anderem, individuellen Wege zu einem Schulabschluss zu führen.

Grundsätzlich sollte eine Schule schließlich zum Schulabschluss führen.

Um sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren, braucht man in der Regel einen Schulabschluss – wer nicht mindestens einen Hauptschulabschluss hat, hat wirklich schlechte Chancen. In 2016 (das sind die aktuellsten verfügbaren Zahlen) verließen 49.200 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss. Mehr als die Hälfte dieser Jugendlichen besuchte eine Förderschule, das heißt, dass rund 24.600 Jugendliche die Förderschule ohne mindestens einen Hauptschulabschluss verließen. Hauptschulen wurden demgegenüber von 9.800 Kindern ohne Abschluss verlassen. Na gut, könnte man jetzt sagen, die Förderschulen haben nun mal auch die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (kurz: SPF) – da kann man ja keinen Abschluss erwarten! Das ist ja wie Äpfel und Birnen vergleichen!

Gut, dann vergleichen wir eben Äpfel mit Äpfeln:

Vergleichen wir Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen und an Förderschulen.

Das ist gar nicht so leicht. Denn: nicht alle Bundesländer erheben die dafür notwendigen Daten bzw. geben sie frei. Warum das so ist, sei dahingestellt.

Aber: In 2016 stellten die Länder Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen Daten für diesen Vergleich zur Verfügung. Thomas Kemper und Janka Goldan von der Universität Wuppertal haben sich diese Zahlen mal genauer angeguckt[1].

Dieser Vergleich fällt alarmierend aus!

Die Abbildung zeigt die Schulabschlussquoten von Jugendlichen mit SPF an Förderschulen und Regelschulen im Vergleich.

Balkendiagramm Schulabschlussquoten an Förderschulen vs. Regelschulen im Vergleich. Bild wird im Textverlauf erklärt.
Quelle: Kemper & Goldan (2018), eigene Darstellung.

Im Schulabgangsjahr 2016 verließen knapp 16.700 Jugendliche mit einem SPF ihre jeweilige Schule. Nur jeder Dritte erreichte einen Schulabschluss. Jugendliche, die eine Förderschule besuchten, erreichten nur in rund 27 % der Fälle einen Abschluss. Jugendliche, die eine Regelschule besuchten, immerhin zu knapp 50 %. Oder anders ausgedrückt: Im Jahr 2016 verließen 72 % der Jugendlichen die Förderschule ohne Abschluss, während an Regelschulen 50 % der Jugendlichen mit SPF diese ohne Abschluss verließ.

Interessant ist auch ein Blick auf die Unterschiede zwischen den Bundesländern

In Hamburg zum Beispiel erreichten rund 70 % der Kinder mit SPF an Regelschulen einen Abschluss – an den Förderschulen waren es nur rund 17 %. In Schleswig-Holstein erreichten nur 30 % der Kinder mit SPF einen Schulabschluss an Regelschulen – an Förderschulen waren es weniger als 5 %.   In keinem Bundesland gab es an den Förderschulen günstigere Schulabschlussquoten als an den Regelschulen.

Und der Blick auf die einzelnen Förderschwerpunkte ist auch aufschlussreich

Was man ja noch irgendwie verstehen kann, ist, dass Kinder mit einem SPF Lernen oder geistige Entwicklung vielleicht seltener einen Schulabschluss erreichen. Das ist auch so: Mit einem SPF geistige Entwicklung hat kein Kind an einer Förderschule einen normalen Schulabschluss erreicht – an Regelschulen waren es immerhin 3 % (155 Jugendliche).

Beim SPF Lernen waren die Abschlussquoten an den beiden Schulformen ähnlich niedrig (23 % an Förderschulen, 27 % an Regelschulen erhielten einen Schulabschluss).

Beim SPF Sprache waren die Abschlussquoten an beiden Schulen ähnlich hoch (85 % an Förderschulen, 90 % an Regelschulen).

Stark auseinander gehen die Abschlussquoten bei Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens und der körperlich-motorischen Entwicklung.

Klar, denn hier sind die Förderschulen spezialisiert! Tja, Pustekuchen.

Nicht mal die Hälfte (rund 48 %) der Jugendlichen mit einem SPF Sehen erreichte einen Schulabschluss an der Förderschule – an der Regelschule waren es fast alle (rund 96 %).

Beim SPF Hören erreichte knapp ¾ der Jugendlichen an Förderschulen einen Abschluss – an der Regelschule waren es fast alle (rund 98 %).

Bei körperlich-motorischen Beeinträchtigungen geht die Schere am weitesten auseinander: An Förderschulen erreicht weit weniger als ein Drittel (28 %) der Jugendlichen einen Schulabschluss – an der Regelschule waren es 90 %.

Und jetzt?

Hat die Förderschule meiner Ansicht nach ein weiteres Legitimationsproblem. Vielleicht gehen dort die „ganz schweren Fälle“ hin. Die extrem langsam lernenden, die sehr geistig behinderten, die krass blinden und die unglaublich gehörlosen. Findet ihr absurd? Ich auch, aber was ist es dann?

Das ist jetzt unwissenschaftlich, polemisch und nur so ne Idee:

Vielleicht ist es ja so, dass die Förderschule gar nicht wirklich fördert. Zumindest nicht den normalen Schulabschluss. Vielleicht fördert die Förderschule die Kinder und Jugendlichen ja dahingehend, dass sie die perfekte Arbeitskraft für den zweiten Arbeitsmarkt, den Werkstätten-Arbeitsmarkt in der parallelen Sonderwelt, werden. Nicht zu klug, nicht zu selbständig, nicht zu anspruchsvoll. Folgsam, diszipliniert und dankbar.

 


[1] Die folgenden Angaben beruhen auf der Studie von Thomas Kemper und Janka Goldan, die sie in der Zeitschrift für Heilpädagogik Nr. 69 im Jahr 2018 unter dem Titel „Schulerfolg von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ veröffentlicht haben. Für 3 Euro kann der Artikel hier herunter geladen werden: https://www.verband-sonderpaedagogik.de/zeitschrift/zfh-artikel.html?zfhid=35338


5 Gedanken zu “Förderschule fördert!

  1. Vorweg als Disclaimer: Ich bin absolut für Inklusion und zwar für absolut alle Kinder mit allen Behinderungen und gerade bestimmte Förderschulen arbeiten vorrangig auf „Werkstattfähigkeit“ hin und nicht auf Bildungsabschlüsse.
    Allerdings halte ich die reinen Zahlen zum Schulabschluss nur begrenzt für vergleichbar und es nicht nur für möglich, sondern für sehr wahrscheinlich dass sich auf den „Förderschulen“ zunehmend die schwerer Beeinträchtigten sammeln. Warum?

    1. Zusätzliche Etikettierung von Kindern auf Regelschulen -> es wird zunehmend Förderbedarf für Kinder beantragt, die immer auf Regelschulen waren, z.B. Teilleistungsstörungen, emotional-soziale Entwicklung, andere leichte Beeinträchtigungen. Das ist bekannt, gibt eben zusätzliche Ressourcen, die im derzeitigen Schulsystem halt auch fehlen. Damit steigt die Inklusionsquote auf dem Papier, aber das sind eben die weniger beeinträchtigten Kinder.

    2. Inklusion wird oft gerade noch zähneknirschend von Politik und Schule akzeptiert, wenn es um Kinder geht, die zielgleich beschult werden oder zumindest nicht mehrfachbehindert sind. Je nach Bundesland werden im Übrigen mehrfachbehinderte Kinder der einen oder anderen Förderschule zugewiesen. D.h. in einem Teil der Bundesländer beschulen Schulen für Körperbehinderte und die Förderschule Sehen auch Kinder, die zusätzlich geistig behindert sind (Spaßig wird es dann bei drei Förderschwerpunkten, da fühlt sich dann keiner zuständig). Das sind heute oft ehemalige Extremfrühchen, die ein paar Baustellen mehr mitgenommen haben oder Kinder mit fortschreitenden Erkrankungen — beides Gruppen, die noch vor 20-30 Jahren entweder nicht so lange überlebt haben oder frühzeitig in Heime aussortiert wurden).

    3. Soziale Selektion funktioniert auch bei behinderten Kindern hervorragend. Momentan bedeutet die Entscheidung für Regelschule doch noch fast immer vor allem eins: Ein nicht endender wollender Kampf um Ressourcen, um angemessene Förderung, um Nachteilsausgleiche. Ein Kampf, für den vor allem armen Familien, zugewanderten Familien und/ oder Eltern mit wenig formaler Bildung oft die nötigen Ressourcen (Wissen, Vernetzung, Geld) fehlt, so dass ihre Kinder eher auf die Förderschule gehen. Auch das „Rundum-Sorglos-Paket“ mit Fahrdienst, Ganztagsbeschulung in den Schultag integrierten Familien, das einige Förderschulen bieten, ist für manche Familien eine dringend nötige Entlastung (In der Inklusion wird ja allzuoft Nachmittagsbetreuung oder Hort wegen der Behinderung verweigert. Zusätzlich können diese Eltern verweigerte Bildung in der Schule (egal welcher) schlechter zu Hause ausgleichen oder auch gar nicht einschätzen, dass ihr Kind nicht ausreichend gefördert und gefordert wird.

    Wenn das so ist, dann heißt das: Nicht nur auf die Schulabschlüsse schauen, sondern darum kämpfen, dass Inklusion für alle gilt, das wir keine „Resteschule“ produzieren, sondern Inklusion von den Schwächsten her denken und umsetzen.

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  2. Danke an Uli, der(?) genau das schreibt, was ich beim Lesen dieses Beitrags dachte. Dem Disclaimer stimme ich ebenfalls vollständig zu.

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